In guter Gesellschaft?

Martin G. Berger, Philipp Amelungsen und Linus Lutz über die neue Spielzeit im Musiktheater

Szenenfoto aus "Powder Her Face": eine Darstellerin liegt rauchend in einer Wanne.

Ein Jahr ist vergangen, seit wir in Schwerin angekommen sind. Ein aufregendes Jahr mit rauschenden Höhen wie unserer Eröffnung mit Le Grand Macabre und schrecklichen Tiefen wie der erneuten coronabedingten Schließung von Dezember bis Februar. Ein Jahr, in dem wir uns gegenseitig, unser Ensemble, aber auch die Stadt, das Theater und sein Publikum besser kennen gelernt haben. Und nun: die zweite Spielzeit! Wir, Operndirektor Martin G. Berger und die Dramaturgen Philipp Amelungsen und Linus Lutz, sitzen in unserem kleinen Büro im Backstein-Nebengebäude des Theaters und sprechen über diese nahe Zukunft.

 

„Gesellschaft“, sagt Linus, „das hat mich beschäftigt in diesem Jahr – manchmal vor allem die fehlende Gesellschaft in einer neuen Stadt und dann in einem leeren Theater“. „Geht mir genauso“, bekräftigt Philipp. „Dabei ist das doch eigentlich das, was Theater am Besten kann: Gesellschaft verhandeln und reflektieren, aber auch Gesellschaft stiften.“ Martin blättert durch den dicken Klavierauszug von Tannhäuser, der ersten Premiere der Spielzeit 2022/2023, die er selber inszenieren wird. „Die Liebe zu neuen Stoffen und Stücken verbindet uns ja schon besonders“, stellt er fest, „aber umso mehr fasziniert mich, dass doch auch so ein 150 Jahre alter Klopper einen differenzierten Blick auf Gesellschaft werfen kann. Tannhäuser ist für mich die Geschichte von einem, der in keine gesellschaftliche Norm zu passen scheint und daran verzweifelt. Und das so differenziert, vielschichtig und spannend! Und wenn man danach in der M*Halle direkt in meine Inszenierung von Powder Her Face gehen kann, hat man ganz ähnliche Fragestellungen, allerdings aus einer viel heutigeren, vor allem weiblicheren Perspektive.“

Überhaupt die M*Halle: Ein wichtiger Schritt, die Stadtgesellschaft Schwerins viel breiter in den Fokus zu nehmen. Dort, auf dem Dreesch, wird auch eine der beiden Produktionen für junges Publikum stattfinden. Linus Lutz und Thomas Helmut Heep, deren gemeinsame Arbeit Hedwig and the Angry Inch wieder auf dem Spielplan steht, machen sich in der für Jugendliche ab 14 Jahren konzipierten Stadt der Oper auf Spurensuche vor Ort: nach Menschen, Geschichten und Geschichte. Philipp hingegen erfindet ein performatives Mitmachtheater im Klassenzimmer für junge Menschen ab 6 Jahren, in dem es nicht nur darum geht, die eigene Stimme zu entdecken, sondern wo garantiert jede:r ein Einhorn sein kann. „Es ist toll, dass wir mit solchen Aufführungen intensiver mit den Menschen in dieser Stadt in Kontakt treten und dadurch selbst mehr zum Teil der Stadtgesellschaft im Hier und Jetzt werden“, freut sich Philipp. „Ich bin aber auch schon gespannt, was Thomas und Linus aus unserem konzertanten Freischütz machen werden – das Stück wird ja oft zur deutschen Nationaloper verklärt.“ „Ich bin da skeptisch“, antwortet Linus, „das ist wirklich eine Forschungsfrage bei dem Projekt!“

 

Forschen, kennenlernen, das Neue mit dem Alten verbinden, gesellschaftliche Vielfalt abbilden und diskutieren, all das treibt uns nach dem Publikumsentzug noch stärker an als vorher. Wie wollen wir leben? Wofür wollen wir streiten? Was sind wir bereit für eine solidarische Gemeinschaft zu opfern? Manchmal kann ausgerechnet eine historische Folie Antworten liefern: Der geteilte Himmel, eine Musical-Uraufführung nach Christa Wolf aus der Feder des preisgekrönten Komponisten Wolfgang Böhmer, ist so ein Fall. „Mit Melissa King haben wir eine deutschlandweit renommierte Musical-Regisseurin, die diese komplexe Erzählung auf poetische Art und mit viel Tanz nahbar machen wird“, freut sich Martin. „Und überlegt mal: Musiktheaterensemble, volle Kapelle, Schauspieler aus dem Haus, Musicalgäste, das ganze Ballett – hier kommen nicht nur alle Bühnenkünste, sondern auch ganz viele unterschiedliche Menschen zusammen, um Theater zu machen. Das ist auch ein Stück gelebte Vielfalt“, ergänzt Philipp.


Und was dann? Das 20. Jahrhundert war unser Fokus der ersten Spielzeit und es lässt uns natürlich nicht los. Aber es kann so unterschiedlich klingen! Janáčeks Das schlaue Füchslein ist wohl eine der traumhaftesten, schönsten Partituren, die je geschrieben wurde. „Aber die Musik erzählt eben schon den Menschen des 20. Jahrhunderts mit all seinen Verwerfungen und Komplexitäten“, analysiert Philipp und spezifiziert: „Regisseur Maximilian von Mayenburg und ich sind wirklich fasziniert von der Füchslein-Figur. Das Stück schafft das Kunststück, in Form einer berührenden Fabel von weiblicher Subjektwerdung, Emanzipation und gesellschaftlichen Umbrüchen zu erzählen.“


Und zum Ende der Spielzeit zieht es uns dann wieder in die M*Halle zu einem wirklich besonderen Projekt, das die Brücke schlägt von Barock über die Moderne bis ins Heute und, auf ganz andere Art als Der geteilte Himmel, aus DDR-Perspektive auf Gesellschaft, Recht und Unrecht blickt: Das MAUSER Triptychon ist eine Uraufführung, in der der zweifach für den deutschen Theaterpreis DER FAUST nominierte Regisseur Paul-Georg Dittrich Musik von Bach, Luigi Nono und seinem eigenen Vater Paul-Heinz Dittrich, einem der wichtigsten Avantgarde-Komponisten der DDR, mit Heiner Müllers Drama Mauser kombiniert. Hier sind wir uns alle drei einig, dass das der Kulminationspunkt der Spielzeit wird: Wir werden in der Halle selber Teil einer Gesellschaft in Bewegung – und damit werden komplexe Fragen auch wieder so erfahrbar wie das nur im Theater möglich ist. In diesem Sinne freuen wir uns auf das nächste Jahr Musiktheater in Schwerin. Auf Begegnungen mit Ihnen, auf Ihre Gesellschaft und spannende Debatten über eine widersprüchliche Welt.

Die Produktionen des Musiktheaters in der Spielzeit 2022/2023

Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg
Romantische Oper in drei Akten, Dresdener Fassung
Musik & Text: Richard Wagner
Deutsch, mit deutschen Übertiteln

Premiere: 16. September 2022

 

 

Powder Her Face
Kammeroper in zwei Akten
Musik: Thomas Adès, Text: Philip Hensher
Englisch, mit deutschen Übertiteln

Premiere: 5. November 2022

 

 

Konzertante Aufführung
Der Freischütz
Romantische Oper in drei Akten
Musik: Carl Maria von Weber, Text: Friedrich Kind
Deutsch, mit deutschen Übertiteln

Premiere: 1. Dezember 2022

 

 

Uraufführung
Der geteilte Himmel
Musical in zwei Akten nach der Erzählung von Christa Wolf
Musik: Wolfgang Böhmer, Text: Martin G. Berger
Deutsch, mit deutschen Übertiteln

Premiere: 11. März 2023

 

 

Uraufführung
MAUSER Triptychon
Musiktheater nach dem Drama von Heiner Müller
Musik: Johann Sebastian Bach, Luigi Nono,
Paul-Heinz Dittrich, Text: Heiner Müller u. a.
Deutsch und italienisch, mit deutschen Übertiteln

Premiere: 27. Mai 2023

Wiederaufnahmen

 

Die Zauberflöte
oder: Wie die Musik mir das Leben rettete
Oper in zwei Aufzügen von W. A. Mozart und Emanuel Schikaneder
in einer Schweriner Fassung von Martin Mutschler

Wiederaufnahme: 1. Oktober 2022

 

 

 

 

Hedwig and the Angry Inch
Ein queeres Rockmusical von John Cameron Mitchell und Stephen Trask

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